Ein Tag nach dem andern
Ein Tag
nach dem andern
für Maruxinha
Der erste Sonnenstrahl drang ins Zimmer und legte sich auf
Saras Gesicht, die langsam erwachte.
Das ferne Rauschen der Wellen, vermischt
mit dem Duft von Kaffee aus der Küche,
holte sie sanft in den Tag zurück:
ein weiterer Morgen, eine weitere Routine.
Doch heute war es anders.
Heute sollte das Treffen stattfinden,
auf das sie seit Wochen gewartet hatte.
Als sie sich zur Seite drehte, sah sie Marco noch schlafen.
Sein vom Leben gezeichnetes Gesicht strahlte Ruhe aus –
jene stille Vertrautheit, die nur aus gemeinsam gelebten Jahren
wächst.
In einer Ecke des Zimmers fiel ihr Blick auf den Bilderrahmen:
Lena, ihre achtzehnjährige Tochter, mit dem unerschütterlichen
Lächeln der Jugend, und die Zwillinge,
immer unzertrennlich, mit dem Glanz der Kindheit in den Augen.
Das war ihre Welt. Und doch war da eine Leere,
die sie nicht benennen konnte.
Während sie sich anzog, betrachtete Sara sich im Spiegel.
Das einfache Kleid, das lose Haar –
sie verliehen ihr eine Leichtigkeit, als wolle sie einer jüngeren
Version ihrer selbst begegnen.
Luca, dachte sie. Der Name klang vertraut,
aber von Emotion durchzogen.
Es war der Junge, den sie einst geliebt hatte –
die erste Liebe. So viele Jahre waren vergangen,
und nun war er zurück in ihrem Leben,
wenn auch nur durch Zufall.
Sie trafen sich an der Promenade am Meer.
Der Ort wirkte wie aus einem alten Postkartenmotiv:
klarer Himmel, das gleichmäßige Rauschen der Wellen,
der salzige Geruch, vermischt mit dem Duft wilder Blumen.
Luca wartete, an einen Baum gelehnt,
mit demselben Lächeln wie damals –
doch feine Falten umspielten nun seine Augen,
Spuren eines gelebten Lebens, die seinen Charme nur vertieften.
„Sara“, sagte er leise, die Stimme weich,
doch von spürbarer Nostalgie getragen.
„Luca“, antwortete sie, bemüht, ihre Unruhe zu verbergen.
Sie setzten sich in ein kleines Café am Meer.
Das Gespräch begann zögerlich,
als wären die Worte selbst scheu unter der Last der Jahre.
Allmählich aber lösten sich die Sätze –
Erinnerungen flossen hervor: Lachen, Versprechen, Träume,
die niemals Wirklichkeit geworden waren.
Luca sprach von seinem Leben – von Wegen,
die er gegangen war, und von denen, die er verloren hatte,
von Lieben, die geblieben wären,
wenn das Leben sie nicht fortgetragen hätte.
Sara hörte zu, aufmerksam und still,
doch ohne alles von sich preiszugeben.
„Bist du glücklich, Sara?“, fragte er schließlich,
und das Schweigen zerbrach wie dünnes Glas.
Die Frage ließ sie innehalten. Was bedeutete Glück?
Ihre Kinder erfüllten ihr Herz,
Marco war ein verlässlicher Partner –
und doch, in Lucas Nähe fühlte sie,
wie etwas in ihr zu flimmern begann,
das längst vergangen schien.
Als der Nachmittag sich neigte,
gingen sie durch die engen Gassen der Stadt –
dieselben Wege, die sie vor Jahrzehnten schon zusammen
gegangen waren. An jeder Ecke schien die Erinnerung zu warten,
geduldig, wie etwas, das auf eine zweite Chance gehofft hatte.
Da sah Sara in der Ferne Lena. Die Tochter lachte,
lebendig, von Freunden umgeben, voller Zukunft.
Für einen kurzen Moment trafen sich ihre Blicke.
Lena erstarrte – überrascht, ihre Mutter mit einem fremden
Mann zu sehen. Sara versuchte zu lächeln, doch sie wusste,
dass dieser Augenblick eine feine Bruchlinie hinterlassen hatte.
Am Abend trafen sie sich noch einmal am Strand.
Die Sonne stand tief und tauchte den Himmel in warme Töne
von Orange und Rosé. Sie setzten sich nebeneinander auf
einen Felsen, blickten schweigend auf den Horizont.
Das Rauschen der Wellen wurde zum
Herzschlag des Augenblicks.
„Manchmal frage ich mich, wie es gewesen wäre,
wenn wir zusammengeblieben wären“, sagte Luca leise,
kaum hörbar.
Sara schwieg. Sie spürte das Gewicht der Jahre,
das in ihren Schultern ruhte. In der Ferne begannen die Lichter
der Stadt zu glimmen. Sie stellte sich die Gesichter ihrer
Kinder vor, das Lachen der Zwillinge, den stillen Blick Marcos.
„Luca“, sagte sie schließlich, „manche Dinge sind nicht dazu
bestimmt, zu geschehen. Vielleicht mussten wir uns wieder
begegnen, um zu verstehen, was war – und was nie sein wird.“
Er nickte, langsam, verständnisvoll. Sie umarmten sich –
kein Abschied voller Dramatik, sondern einer voller Frieden.
Als Sara nach Hause kam, war die Nacht hereingebrochen.
Marco saß auf der Veranda, auf der alten Holzbank,
der Blick ruhig, fast wissend. Sie setzte sich neben ihn.
Eine Weile sagte keiner ein Wort.
Dann legte Marco seine Hand auf ihre.
„Alles in Ordnung?“ fragte er, ohne sie anzusehen.
Sara lächelte sanft. „Ja“, sagte sie nur.
Gemeinsam blickten sie in den Sternenhimmel,
während das ferne Rauschen des Meeres leise in die Dunkelheit
hineinwuchs.
Am nächsten Morgen begann das Leben wieder wie gewohnt.
Doch tief in ihrem Inneren fühlte sich Sara vollständiger.
Sie wusste nun, dass die Vergangenheit ein schöner
Traum war – aber die Gegenwart war die wahre Entscheidung.
Ende
Rui Luís Macedo Baptista, geboren 1968 in Lissabon, aufgewachsen in Berlin und
Amadora (Portugal), schreibt zweisprachig auf Portugiesisch und Deutsch.
Seit 2004 veröffentlicht er seine Gedichte, heute im Blog
NovoCiclo (www.novociclo.blogspot.com).
Seit 2024 gestaltet er visuelle Gedichte mit Künstlicher Intelligenz,
die Wort und Bild zu einer poetischen Einheit verbinden.
Einen Tag nach dem anderen ist seine erste Novelle – eine zarte Geschichte über Erinnerung,
Liebe und das leise Weiterleben.
Titel: Ein Tag nach dem andern
Originaltitel: Um dia de cada vez
Autor: Rui Luís Macedo Baptista (ruiluis)
Jahr: 2024
Originalsprache: Portugiesisch
Übersetzung: Deutsch (unter Aufsicht und Revision des Autors)
Art: Novelle
Themen: Liebe · Erinnerung · Zeit · Entscheidungen · Meer · Vergänglichkeit
Bilder: KI-generiert nach originalen Prompts des Autors,
im expressionistischen Stil des 19. Jahrhunderts, inspiriert von den emotionalen
Kontrasten und den Lichtfarben dieser Epoche.
Sprache und Stil: Poetisch-realistische Prosa mit introspektivem Tonfall.
Urheberrecht: © Rui Luís Macedo Baptista, 2024. Alle Rechte vorbehalten.
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